…und weil Karlheinz nun mal ist wie er ist, achtet er nur auf sich selbst, denn schließlich hat er Urlaub. Als wir immer noch alle total begeistert zusammenstehen, kommen die Polizisten erneut auf uns zu und sagen uns, dass wir hier nicht bleiben können…

Wir müssen nochmal raus auf die Straße und erst eine andere Abfahrt runter. Dazu muss die Straße nochmal gesperrt werden und (wen wundert es) es muss wieder einmal schnell gehen. Alles kein Problem, ich bin bereit. Dieses Mal reite ich Soleo ganz dicht an das Ende der Gruppe, denn es hat Spaß gemacht durch den Tunnel zu rasen und so machen wir das jetzt auch. Mein Dauergrinsen ist immer noch da. Georg ist vor mir, wir machen unsere Scherze und dann drehe ich mich um…
Zuerst kann ich es nicht einordnen. Warum steht Patricia noch so weit hinten. Als ich genau hinsehe, kann ich den Grund erkennen: Karlheinz! Der ist nämlich noch einmal abgestiegen und ich kann euch beim besten Willen nicht sagen warum! Wahrscheinlich habe ich es mittlerweile einfach verdrängt oder es erschien mir zu diesem Zeitpunkt schon so absurd, dass ich es sofort wieder vergessen habe. Vermutlich musste er irgendetwas festbinden, Tempos suchen, sich die Haare kämmen, in der Nase bohren oder etwas ähnlich wichtiges machen. Ganz egal was er gerade macht, Fakt ist: Er steht neben seinem Pferd und das trotz der drängenden Patricia und unserer mittlerweile extrem genervten Rittführerin.
Diese sieht mich zögern, schaut aber gar nicht nach weiter hinten und schreit mich an: „Vorwääääääärts, wir müssen uns beeilen! Die Polizei will das wir uns beeilen!“ Ich schreie zurück, dass sie warten muss, weil Karlheinz nichts so weit ist, sie wiederholt nur, dass wir uns beeilen müssen und das Ende vom Lied? Typisches Sender – Empfänger Problem, sie hat anscheinend die beiden hinten nicht realisiert und bringt ihr Pferd in Bewegung. Dieses Mal auch nicht im langsamen Trab, sondern mit richtig Tempo. Ich brauche nicht zu überlegen was ich tun soll, ich kann nicht abhauen, denn wie wir alle wissen (oder es zumindest tun sollten): Pferde – Herde – Trieb – Panik.

Die Gruppe ist direkt hinter der Rittführung und ich stehe mit meinem, jetzt doch panisch werdendem, Pferd in der Mitte. In diesem Moment dreht sich Georg um und sieht was hier abläuft. Er versucht Apollo zu bremsen, der aber logischerweise hinter der Herde her will und nicht begeistert von dieser Idee ist. Karlheinz, komplett entspannt und ruhig steigt auf sein Pferd und wirkt eher genervt von unserer Ungeduld. Dann galoppiert er wortlos und ohne irgendeine Ansage an. Bei dem Wechsel zwischen altem und neuen Asphalt rutscht sein Pferd weg. Ihn interessiert weder das, noch das unsere Pferde jetzt natürlich auch mit dem Kumpel fliehen und den anderen folgen wollen. Paul schießt hinterher, wir stehen noch auf demselben Fleck, denn Soleo zieht sich gerade so hoch, dass er auf der Stelle piaffiert und testet ob man die Straße auch auf 2 Beinen, hüpfend wie ein Karnickel, überwinden könnte, um sich dann für abgehacktes, seitliches galoppieren zu entscheiden.

Der neue Asphalt ist nicht gerade hilfreich bei meinem Versuch mein Pferd herunterzuspielen und zeitgleich einen klaren Gedanken zu fassen. Eigentlich ist in meinem Kopf gerade das komplette Gedankenchaos:
- Verdammte Scheiße, ich will das nicht!
- Tief atmen!
- Ich würde jetzt gern absteigen! (Da ich gerade das letzte Pferd hinter der Kurve verschwinden sehe, ist das keine gute Idee.)
- Tief atmen!!!!
- Ich hasse meine soziale Ader! Warum war es mir eigentlich nicht scheißegal, wie dieser Typ allein zurechtkommt. (Die Antwort kann ich mir aber auch gleich selber geben: Patricia war dabei und selbst wenn er allein gewesen wäre, sowas macht man nicht.)
- Was ist wenn ich ihn jetzt einfach laufen lasse? (Kurzer Test zeigt, dass wir uns dann mit Sicherheit das Genick brechen, weil er 0,0% aufpasst und nur panisch zu den Kumpels will?)
- Richtig tief atmen!
- Warum zur Hölle wollte ich diesen Ritt machen?
- Ok, jetzt habe ich ihn gleich…
- Jesus!!!! Da ist Patricia!!!! Und ja, da – ebenfalls quer auf der Straße galoppierend – ist auch Georg. Halleluja…
Ich habe mich selten so gefreut jemanden zu sehen wie in diesem Moment, die beiden mit ihren Pferden. Es war mit Sicherheit nur ein Augenblick bis ich um diese Kurve und sie wieder in meinem Blickfeld waren und doch hat dieser Augenblick für so viele Gedanken gereicht. Mein erster Satz an Patricia ist deshalb auch „Ey, lass mich nicht allein hier hinten!“ Sie schafft es sogar zu grinsen und meint beruhigend „Na, na i bleib scho do!“ Georg und Apollo reiten immer noch quer und vom Rest ist nichts mehr zu sehen.
Ich brauche insgesamt ca. 500 Meter um Soleo einzufangen. Das hört sich nicht weit an, ist aber ein langes Stück Straße und eine endlos lange Strecke, wenn du gerade keine 100%ige Kontrolle über dein Pferd hast. Mein einziges Ziel ist es deshalb, mich selbst ruhig zu halten, damit Soleo sich beruhigen kann. Ich gehe vor, wie bei meinen Angstkursen und gebe mir gedanklich Anweisungen: „Tief in den Bauch atmen, Absätze tief, Hände locker, immer wieder nach vorn überstreifen, Atmen nicht vergessen!“ Und dann kommt der Moment, an dem ich merke, dass es ankommt und mein Pferd zumindest in Teilen wieder bereit ist zuzuhören. Die ganze Zeit über ist Patricia mit Paul an meiner Seite und das ist etwas, dass ich ihr definitiv nie vergessen werde.
Georg hat zwar Abstand zu uns, aber ich weiß, wenn es brennt findet er einen Weg zu helfen oder mich zumindest aufzufangen wenn ich mit meinem Pegasus vorbeifliege.

Dann ist es soweit und ich spüre, dass ich jetzt angaloppieren kann. Es ist sogar ein langsamer, wenn auch äußerst spanischer Galopp. Vor allem aber ist es ein Galopp, den ich kontrollieren kann. Er ist angespannt, aber alles ist gut. Georg sieht das und konzentriert sich auf sein Pferd. (Kommentar hinterher: „Ich hab doch gesehen, dass du das im Griff hast.“) Jetzt reiten wir über die Schnellstraße und können es auch wieder genießen. Zu dritt so eine Straße für uns und das mit 3 Pferden, die es gerade echt verstehen eine Show abzuliefern, das hat schon was. Der Polizist grinst uns nett an als wir die Straße verlassen und dann steht sie da: unsere Gruppe…
Während wir einreiten und in betretene Gesichter schauen, beschließe ich nicht auf Konfrontation zu gehen. In meinem Kopf läuft ein Mantra ab „Ich rege mich nicht auf, ich rege mich nicht auf, ich rege mich nicht auf…“ Als Persönlichkeitstrainer sollte ich wissen, dass mein Unterbewusstsein das Wort „nicht“ ignorieren wird, als Mensch bin ich gerade so gereizt, dass ich nicht klar denken kann und dann reicht ein Blick der Rittführung, um aus der Haut zu fahren und ich muss mal ganz deutlich nachfragen, ob die Körperöffnung, an die die Sonne nie scheint, eventuell geöffnet sein könnte. Das ist jetzt die leserfreundliche Umschreibung meiner eigentlichen Aussage.

Ich bin ein bisschen von mir selbst überrascht, denn eigentlich würde ich so etwas allerhöchstens sagen, wenn ich jemanden davon erzähle – aber so direkt? Ja, ich glaube hier kommen gerade alle meine Facetten zum Vorschein, auch die, die im Rahmen meiner guten Erziehung eliminiert wurden. Der Satz „Wir mussten uns beeilen.“ schmeißt meine Beherrschung dann ganz über den Haufen. Ich versuche bewusst zu machen, dass Karlheinz nicht am Pferd war und es ihre Aufgabe gewesen wäre, auf ihn zu warten. Karlheinz wiederum schaut gelangweilt in der Gegend rum und ist sich keiner Schuld bewusst.
Sehr amüsant auch der Erklärungsversuch, dass die Polizei einfach die Sperre aufgehoben hätte und dann keiner mehr Rücksicht genommen hätte. Sorry, die Polizisten sind keine Idioten! Was sind das für Räubergeschichten!. Mein „So ein Bullshit!“ wird von Georg abgebrochen. Der hat wohl erkannt, dass ich gleich ausflippe und bringt alle dazu weiterzureiten, weil wir noch sooooo eine lange Strecke vor uns haben. Man merkt, dass mich mein Freund Georg schon sehr lange kennt. „Reg dich erstmal ab, das ist es doch nicht wert!“ Damit hat er wohl recht und so mache ich weiter was ich auf der Straße begonnen habe. Tief atmen….

Leider hätte ich ein bisschen Zeit gebraucht, um mich wieder abzuregen, aber wir gehen nur einen kurzen Weg und dann wartet die Organisatorin am Wegesrand, um den ausgefallenen Kaffee von der Mittagspause nachzuholen. An und für sich eine tolle Sache, wenn – ja wenn, da nicht Karlheinz wäre. Der Karlheinz der noch kein einziges mal auf diesem Ritt kapiert hat, wenn er andere in Gefahr gebracht hat, genau dieser Karlheinz kommt, während ich noch auf meinem Pferd sitze, auf mich zu und fängt an zu argumentieren.
Er verstünde gar nicht warum ich mich so aufrege. Ich nehme mich zusammen und versuche ihm ruhig zu erklären, wie ein Pferd funktioniert. Was es mit dem Herdentrieb auf sich hat, das wir – also Patricia, Georg, er und ich, für uns eine Herde waren und wir gefahrlos hätten hinterher reiten können, bis zu dem Zeitpunkt an dem er abgezischt ist. Sein Argument, dass er bei uns nicht reiten kann, weil unsere Pferde zu gefährlich sind, schmeißt erste Funken auf die Lunte, die direkt zu meinem äußerst scharf geladenen innerem Pulverfass führt.
Georg sieht mich an und merkt, dass es jetzt gleich vorbei ist mit Diplomatie und Psychologie und versucht mich mit einem Handwinken zu beruhigen. Ich bin bemüht! Meinen Mühen entgegen steht aber ein Mensch, der nicht weiß, wann es Zeit ist ruhig zu sein oder zu gehen. „Also schließlich hast du ja unterschrieben, dass du in jeder Gangart reiten kannst, dann musst du dich jetzt nicht so aufregen. Ich kann auch nichts dafür das du nicht reiten kannst!“ 2 Sekunden absolute Stille, dann sage ich sehr leise und aufs äußerste beherrscht „Ich habe nicht unterschrieben, dass ich einem Idioten auf der Teerstraße hinterher schießen muss und jetzt tu dir selbst einen Gefallen und geh einfach!!!!“

Karlheinz ist jetzt in Fahrt und beginnt einen Vortrag über unsere gefährlichen Pferde zu halten und weil er jetzt nicht geht, riskiert er tatsächlich der erste Mensch zu werden, dem ich eine deftig, bayerische Watschn geben muss. Ich versuche es nochmal mit Atmen. Beim nächsten „…ja aber…“ ist es jedoch mit jeglicher Selbstbeherrschung vorbei. Ich springe von Soleo, wie die Trickreiter in Pullmann City, und schreie im Flug „So und jetzt krachts…“ Ich habe keine Ahnung woher Georg so schnell kommt und warum er mich sofort am Ärmel hat, während ich in Richtung Karlheinz will und weiterbrülle „Der fangt etzt oane, vielleicht schoit a dann`s Hirn wieda ei!!!“ (Für Nichtbayern: Ich hege die Hoffnung, dass ein Schlag auf seinen Kopf, seine Fähigkeit für logisches Denken reaktivieren könnte!)
Ich glaube, dass mich nicht viele Leute in dieser Situation bremsen können, denn genau in diesem Moment will ich ihm einfach eine reinhauen. Nicht weil ich gewalttätig bin, sondern einfach in der Hoffnung, dass er aufwacht und erkennt, was er gerade für einen Scheiß labert. Georg hält mich immer noch mit einer Kraft am Ärmel fest, die mich zwingt ihn anzuschauen. Er grinst mich breit an und meint „Das bringt doch nichts!“ Ich bin anderer Meinung, aber sein Grinsen lässt mich schlagartig erkennen, wie grotesk und unfreiwillig komisch die ganze Situation gerade ist und so muss ich tatsächlich über mich selbst lachen. „Hast du das gemerkt? Ich wollte ihm echt weh tun?“ Jetzt lachen wir beide und gehen kopfschüttelnd Kaffee holen, während Karlheinz (immer noch vor sich dahin meckernd) den nächsten Leuten auf die Nerven geht.
Georg beim Versuch meinen Ausraster zu erklären 😉
Alles wieder ok?
Unsere Rittführerin kommt zwischenzeitlich auf uns zu und gibt zu, dass sie Karlheinz nicht gesehen hatte. Die Schuld aber jetzt allein auf ihn zu schieben, finde ich nicht richtig. Es wäre in ihrer Verantwortung gelegen, denn das ist der Job des Rittführers. Ihre erneute Aussage, dass die Polizei dann die Sperre aufgehoben hätte und die Autos von allen Richtungen gekommen wären, will ich nicht mehr kommentieren und überlasse daher Georg die Debatten. Heute will ich einfach ankommen und meine Ruhe haben.
Ich habe zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, wie lange es dauern wir, bis sich mein Wunsch erfüllt, aber davon im nächsten Teil mehr…
Die ganze Situation wird mir nach dem Urlaub noch einmal vor Augen geführt werden. Eine unserer Mitreiterinnen wollte das wunderschöne Panorama und den Blick über die Straße in einem Video festhalten. Angelockt durch mein Geschrei, hat sie die Kamera drauf gehalten. Ich sag nur soviel: Ich hatte keine Ahnung, dass ich so aggressiv sein kann und danke, dass es nicht in das Gruppenalbum geladen wurde. ❤